Geschrieben am 10. Mai 2020 von Dr. Jan Höpker.
Obwohl beim Menschen nur rund 2 Prozent des Körpergewichts auf das Gehirn entfallen, schlägt sein Energieverbraucht mit satten 20 Prozent zu Buche. Im 20. Jahrhundert ging man noch davon aus, dass das Gehirn nur bei kognitiver Anstrengung – beim Denken – große Mengen Energie verbraucht. Wie es tatsächlich um den Energieverbrauch des Gehirns bestellt ist, schauen wir uns in Kürze an. (Spoiler: Man hatte das Bewusstsein maßlos über- und das Unterbewusstsein entsprechend maßlos unterschätzt.)
Um die Jahrtausendwende schob der Radiologe Marcus Raichle Menschen in einen Gehirnscanner und gab ihnen die Anweisung, den Geist ruhen zu lassen. Sie sollten an nichts denken. Zu Raichles Überraschung standen die Gehirne nicht etwa still, sondern es zeigte sich immer wieder das gleiche Muster an Gehirnaktivität. Dieses Netzwerk, das beim Nichtstun innerhalb von Sekundenbruchteilen aktiv wurde, ist heute unter den Begriffen Default Mode Network (DMN), Ruhezustandsnetzwerk oder auch task-negative Network bekannt. Die Aktivität (resting-state activity) des DMN ist negativ mit der Aktivität der Aufmerksamkeitsnetzwerke korreliert.
Diese Zentren sind am DMN beteiligt:
- Präfrontaler Cortex,
- Praecuneus,
- Teile des Gyrus cinguli,
- parietalis superior und
- Hippocampus.
Das DMN wurde in letzter Zeit intensiv erforscht, aber die Wissenschaftler sind noch weit von einem gemeinsamen Paradigma entfernt. Einige Forscher sind sogar der Ansicht, dass die Gehirnareal, die dem DMN zugesprochen werden, gar nicht gemeinsam aktiv sind, sondern dass es sich um ein Artefakt handelt, das dadurch entsteht, dass die entsprechenden Areale von einer gemeinsamen Arterie mit Blut versorgt werden. Schwankungen in der gemeinsamen Blutversorgung würden mit gemeinsamer neuronaler Aktivität verwechselt (Vaskularitäts-Hypothese). Das nur am Rande.
Es wurde auch ein task-positive Network gefunden, das immer dann aktiv ist, wenn die bewusste Aufmerksamkeit fokussiert ist. Da sich das task-negative Network mit dem task-positive Network abzuwechseln scheint, verbraucht das Gehirn zu jedem (wachen) Zeitpunkt in etwa gleich viel Energie. Im Zustand der fokussierten Aufmerksamkeit ist der Energieverbrauch um lediglich 5 Prozent höher als beim Nichtstun. (Übrigens hat das Gehirn auch im Schlaf einen recht hohen Energieverbrauch.)
Was tut das Default Mode Network? Es ermöglicht so genanntes reizunabhängiges Denken (stimulus-independent thought). Der entsprechende Bewusstseinszustand wird als Mind-wandering bezeichnet. In diesen Situationen ist das DMN ist aktiv:
- Wenn wir an andere Menschen denken (Moral, Theory of Mind, Empathie)
- Wenn wir über uns selbst nachdenken
- Wenn wir uns an die (eigene) Vergangenheit erinnern
- Wenn wir (für) die Zukunft planen
- Wenn wir einer Geschichte folgen (Film, geschriebener Text, Erzählung)
Allgemein gesprochen sortiert, verbindet, bewertet und speichert das DMN persönliche Erlebnisse. Diese Routinetätigkeit wird immer dann durchgeführt, wenn das Gehirn Leerlauf hat, weil die fokussierte Aufmerksamkeit gerade nicht gebraucht wird. (Etwas vereinfacht gesprochen scheint die Aktivität des DMN mit der des REM-Schlafes vergleichbar zu sein.)
Wozu das alles? Letztendlich geht es dem Gehirn darum, vorherzusagen, was als nächstes auf uns zukommen wird. Das Gehirn möchte überleben, und weil die Vermeidung des Todes – und entsprechend die frühzeitige Erkennung und Vermeidung von Gefahren – höchste Priorität hat, drehen sich die Gedanken des DMN allzu gerne um negative Ereignisse und unschöne Eventualitäten.
Literatur/Quellen
A default mode of brain function. Marcus E. Raichle et. al. PNAS (2001) 98(2) 676–682 (Artikel)