Schülern, Studenten und Berufstätigen wird häufig versprochen, dass sie bessere Ergebnisse erzielen, wenn sie den Lernstoff über den jeweils bevorzugten Sinneskanal aufnehmen. Zum Beispiel soll ein auditiver Lerntyp profitieren, wenn er den Lernstoff hört, wohingegen ein visueller Lerntyp angeblich besser mit Schaubildern und Grafiken zurechtkommen soll.
Da die Lerntypentheorie so eingängig ist, wird sie oftmals unhinterfragt akzeptiert und/oder übernommen. Doch wer Nachforschungen anstellt, wird auf Widersprüche stoßen, die erhebliche Zweifel an der Existenz und Nützlichkeit von Lerntypen aufkommen lassen.
Anstatt einer einheitlichen Theorie, wie man sie von den Naturwissenschaften kennt, gibt es mehr als 70 konkurrierende Lerntypen-Modelle, die sich so sehr widersprechen, dass die meisten von ihnen schon aus Gründen der Logik falsch sein müssen. Selbst in der für die Praxis so wichtigen Frage, ob Lernmaterial und Lehrstil an den Lerntyp angepasst werden sollten (matching) oder ob es besser wäre, die schwachen Kanäle zu bespielen, um diese langfristig zu stärken (stretching), sind die Experten uneinig.
Im Laufe der Jahrzehnte hat sich ein unüberschaubar großer Berg an Studien zu »Lerntypen« (der umgangssprachliche Begriff, der auch von Pädagogen verwendet wird) und »Lernstilen« (Psychologen bevorzugen diesen Begriff) angehäuft. Doch die meisten Studien weisen methodische Mängel auf, und die Ergebnisse aus den wenigen methodisch sauberen Arbeiten sind nicht überzeugend. Anders als oftmals behauptet wird, ist die Existenz von Lerntypen damit aber nicht widerlegt.
Selbst wenn Lerntypen nur ein Mythos wären, würde daraus nicht automatisch folgen, dass es ein Fehler wäre, sich damit zu beschäftigen. Die Idee, dass Menschen unterschiedlich lernen, motiviert Schüler, Studenten und Berufstätige dazu, die eigenen Lerngewohnheiten zu hinterfragen. Sie machen sich die Stärken und Schwächen ihrer Lernstrategie bewusst, und das Interesse an effektiveren Lerntechniken wird geweckt.
Übersicht beliebter Lerntypen-Modelle
Es gibt mehr als 70 konkurrierende Lerntypen-Modelle. Im Folgenden stelle ich die fünf beliebtesten Modelle in chronologischer Reihenfolge vor.
Lerntypen nach Vester
Die Idee der Lerntypen wurde erstmals 1975 von Frederic Vester vorgestellt. In seinem Bestseller Denken, Lernen, Vergessen stellt der deutsche Biochemiker und Universitätsprofessor eine Hypothese auf: Verschiedene Typen von Lernern bevorzugen verschiedene Sinnes- bzw. Wahrnehmungskanäle. Vester postulierte vier verschiedene Lerntypen:
- Der visuelle Lerntyp lernt am besten, indem der sich die Lerninhalte visuell veranschaulicht, zum Beispiel mit Grafiken und Schaubildern.
- Der auditive Lerntyp lernt am besten, indem er den Lernstoff in gesprochenen Worten hört.
- Der haptische Lerntyp kann mit Theorie wenig anfangen, denn er lernt am besten, wenn er etwas Handfestes zum Anfassen hat.
- Der intellektuelle Lerntyp lernt am besten, indem er sich gedanklich mit den Lerninhalten auseinandersetzt.
Der Lerntyp nach Vester wird in einem simplen Gedächtnistest ermittelt: Dem Prüfling werden jeweils zehn Begriffe vorgelesen, als Objekt gezeigt und zum Lesen bzw. Ertasten vorgelegt. Der Lerntyp des Prüflings entspricht dann derjenigen Kategorie, in der er oder sie sich nach einer bestimmten Zeit noch an die meisten Begriffe erinnern kann. Wenn er oder sie in zwei Kategorien gleichauf ist, liegt ein sogenannter Mischtyp vor.
Laut Vester ist der Lerntyp eines Menschen biologisch determiniert und nicht veränderbar. Einen empirischen Beleg für seine Hypothese blieb Vester bis zu seinem Tod im Jahre 2003 schuldig.
Kritik an den Lerntypen nach Vester
Vesters Modell wird von Psychologen heftig kritisiert.
- Das Modell ist widersprüchlich: Es wird suggeriert, dass der intellektuelle Lerntyp lernt, ohne Informationen über die Sinne aufzunehmen. Hingegen werden die Informationen, die von den anderen Lerntypen über den jeweils bevorzugten Sinneskanal aufgenommenen werden, nicht weiter verarbeitet. Heute wissen wir, dass der Lernprozess fast immer mehrstufig ist: Nachdem die Informationen über die Sinne aufgenommen wurden, müssen sie in einem bewussten Denkprozess intellektuell verarbeitet werden.
- Lernen wird mit Memorieren gleichgesetzt: Jedoch besteht das Ziel in der Praxis zumeist nicht darin, Informationen nur auswendig zu lernen, vielmehr soll der Lernstoff verstanden werden.
Lernstile nach Kolb
Der US-amerikanische Sozialpsychologe David A. Kolb (*1939) stellte im Jahr 1984 ein Modell vor, das vier Lernstile unterscheidet.
- Der Macher (Akkomodierer) ist eher praktisch als theoretisch veranlagt. Er oder sie lernt bevorzugt durch eigene Erfahrungen, die er oder sie zum Beispiel im Rahmen von Experimenten gewinnt.
- Der Denker (Assimilierer) bevorzugt abstrakte theoretische Modelle und abstrakte Begriffe.
- Der Entdecker (Divergierer) lernt am besten durch Reflexion konkreter Erfahrungen und Beobachtungen.
- Der Entscheider (Konvergierer) lernt am besten, indem er oder sie theoretisch erworbenes Wissen in die Praxis umsetzt.
Kolbs Lernstile basieren auf der Vorstellung eines zyklischen Lernprozesses, durch den Erfahrung in Wissen transformiert wird. Dieser sogenannte »Lernkreislauf« besteht aus vier Phasen, die immer wieder von Neuem durchlaufen werden. Aus diesem Modell hat Kolb vier Lernstile abgeleitet.
Individuen sind Mischtypen mit einer Präferenz für einen bestimmten Stil. Einer Theorie zufolge neigen wir dazu, unseren Beruf auf Basis unseres Lernstils zu wählen. Jedoch sind Lernstile nach Kolb nicht statisch, sondern können durch Training verändert werden.
Lernstile nach Felder
Im Jahr 1988 stellte der US-amerikanische Chemieingenieur Richard M. Felder (*1939) zusammen mit Barbara A. Soloman das Inventory of Learning Styles vor. In diesem Modell wird der Lernstil durch vier Dimensionen beschrieben.
- #1: Denkweise. Aktive Lerner bevorzugen es neue Inhalte sofort anzuwenden, zum Beispiel, indem sie mit anderen darüber sprechen oder das Gelernte praktisch ausprobieren. Reflektive Lerner bevorzugen es, zunächst für sich allein über neue Lerninhalte nachzudenken.
- #2: Wahrnehmung. Sensorische Lerner lernen am liebsten auf Basis von Experimenten und konkreten Beispielen. Sie sind detailverliebt, bevorzugen Standardverfahren und verabscheuen unerwartet auftretende Probleme und Hindernisse. Intuitive Lerner bevorzugen abstrakte Theorien, Modell und Prinzipien. Details langweilen sie.
- #3: Lerninhalte. Visuelle Lerner lernen am besten aus grafischen Darstellungen wie Diagrammen und Mindmaps. Verbale Lerner lernen am besten aus gesprochenen oder gelesenen Texten.
- #4: Sichtweise. Sequenzielle Lerner lernen kontinuierlich. Globale Lerner lernen stoßweise: Sie verstehen lange Zeit gar nichts, dann haben sie einen Aha-Moment.
In einer älteren Version von Felders Modells gab es eine fünfte Dimension (induktiv/deduktiv), die der Universitätsprofessor jedoch wieder entfernt hat.
Lernstile nach Honey und Mumford
Das Modell, das Peter Honey und Alan Mumford im Jahr 1992 vorgestellt haben, ähnelt dem Modell von Kolb. Der Lernprozess, der dem Modell zugrunde liegt, ist zyklische und umfasst vier Stufen.
- Eine Erfahrung machen
- Über die Erfahrung nachdenken (reflektieren)
- Schlussfolgern
- Das Gelernte in der Praxis anwenden
Aus diesem Lernprozess haben Honey und Mumford vier Lernstile abgeleitet:
- Aktivisten sind charakterisiert durch: differenzierend, aufnahmefähig, fühlend, akzeptierend, intuitiv, abstrakt, gegenwartsbezogen, Erfahrung und intensiv
- Nachdenker sind charakterisiert durch: versuchend, anwendbar, betrachtend, risikoreich, produktiv, beobachtend, reflektierend, Beobachtung und zurückhaltend
- Theoretiker sind charakterisiert durch: interessiert, analytisch, denkend, bewertend, logisch, greifbar, zukunftsbezogen, Vorstellung und rational
- Pragmatiker sind charakterisiert durch: praktisch, unbefangen, ausführend, wahrnehmend, fragend, aktiv, pragmatisch, Experiment und verantwortlich
Lerntypen nach Schrader
Im Jahr 1994 stellte Josef Schrader ein weiteres Lerntypen-Modell vor, das der Erziehungswissenschaftler speziell für Erwachsene in beruflicher Weiterbildung konzipiert hat. Es werden fünf Lerntypen unterschieden.
- Der Theoretiker lernt gerne und problemlos sowohl theoretische Hintergründe als auch praktische Anwendungsbeispiele. Zahlen, Daten und Fakten mag er nicht auswendig lernen.
- Der anwendungsorientierte Typ lernt gerne, sobald er in dem Lernstoff einen praktischen Nutzen sieht. Theorien, die ihm keinen praktischen Nutzen bieten, lernt er nicht so gerne.
- Der Musterschüler ist strebsam und fleißig. Gute Noten sind ihm jedoch wichtiger als das Wissen und die Fähigkeiten, die er durch das Lernen erwirbt.
- Der gleichgültige Typ lernt nur, wenn es unbedingt notwendig ist.
- Beim unsicheren Typ wird das Lernen von Angst und Nervosität begleitet. Er braucht Druck von außen, um seine Blockade zu überwinden.
Kritik an Lerntypen
Zwei Teams von Wissenschaftlern, deren Aufsätze in den Jahren 2004 und 2008 veröffentlicht wurden, haben die Forschungsarbeiten zu den verschiedenen Lerntypen-Modellen unter die Lupe genommen.
Coffield et al., 2004
Im Jahr 2004 wurde ein kritischer Übersichtsartikel mit dem Titel »Learning styles and pedagogy in post-16 learning« (Lernstile und Pädagogik für das Lernen nach dem 16. Lebensjahr) veröffentlicht. Ein Team von britischen Erziehungswissenschaftlern, das von Frank Coffield geleitet wurde, hatte die gängigsten Lerntypen-Modelle begutachtet.
Die Wissenschaftler kamen zu dem Schluss, dass die gängigsten Modelle schwerwiegende Schwächen aufweisen, und sie empfahlen, den Gebrauch dieser Modelle einzustellen.
Pashler et al., 2008
Die vier britischen Psychologieprofessoren Harold Pashler, Mark McDaniel, Doug Rohrer und Robert A. Bjork wurden von der Fachzeitschrift Psychological Science in the Public Interest beauftragt, die Studien, die der Anwendung von Lernstilen in Schulen zugrunde liegen, objektiv zu beurteilen. Ihr Aufsatz mit dem Titel »Learning Styles: Concepts and Evidence« erschien 2008.
Die folgenden vier Kriterien musste eine Forschungsarbeit erfüllen, um den Ansprüchen der Autoren zu genügen:
- Die Lernenden müssen in zwei Gruppen eingeteilt worden sein.
- Die Probanden jeder Lerntypgruppe müssen nach dem Zufallsprinzip einer von mindestens zwei verschiedenen Lernmethoden zugewiesen worden sein.
- Alle Probanden müssen die gleiche Leistungsprüfung abgelegt haben.
- Die Ergebnisse müssen zeigen, dass die Lernmethode, die die Testleistung einer Lerntypgruppe optimiert, sich von der Lernmethode unterscheidet, die die Testleistung einer zweiten Lerntypgruppe optimiert.
Die Autoren kommentieren ihr ernüchterndes Ergebnis so:
»Obwohl die Literatur über Lernstile sehr umfangreich ist, haben nur sehr wenige Studien überhaupt eine experimentelle Methodik angewandt, mit der die Gültigkeit von Lernstilen im Bildungsbereich getestet werden kann. Darüber hinaus haben einige der Studien, die eine geeignete Methode verwendet haben, Ergebnisse erzielt, die der weit verbreiteten Hypothese widersprechen.«
Und sie fahren fort:
»Wir kommen daher zu dem Schluss, dass es derzeit keine ausreichende Evidenzbasis gibt, um die Einbeziehung von Lernstileinschätzungen in die allgemeine Bildungspraxis zu rechtfertigen. Daher sollten die begrenzten Bildungsressourcen besser für die Einführung anderer Bildungspraktiken verwendet werden, die über eine solide Evidenzbasis verfügen, von denen es eine wachsende Zahl gibt.«
Kurz und in anderen Worten gesagt: Nach aktuellem Kenntnisstand sind Lerntypen nicht der richtige Weg.
Lerntypen richten Schaden an!
Durch das Festhalten an der Lerntypentheorie wird auf mehreren Wegen Schaden angerichtet:
- Bei Schülern, Studenten und berufstätigen Lernern entsteht der falsche Eindruck, sie könnten mühelos lernen, indem sie sich mit Lernstoff berieseln lassen, dessen Format zu ihrem Lerntyp passt. Wenn Lernen anstrengend ist, wird dies als Hinweis auf unpassendes Lernmaterial gedeutet.
- Die Selbstwirksamkeit der Lerner leidet, wenn diese glauben, dass sie aus Lernmaterial, dessen Format nicht ihrem Lerntyp entspricht, nichts lernen können.
- Lerner und deren Eltern werden dazu verleitet, die Verantwortung für den Lernerfolg an die Bereitsteller des Lernmaterials abzugeben.
Warum sind Lerntypen trotzdem so beliebt?
Sternzeichen, Temperamente und Rassen – wir Menschen lieben es, uns und andere in Schubladen zu packen. Dahinter steckt keine schlechte Angewohnheit, sondern die Art und Weise, wie wir die Welt verstehen.
Das Gehirn kategorisiert praktisch alles, und es erfindet immer wieder neue Kategorien. Bei Tieren, Nahrungsmitteln und Gegenständen klappt das erstaunlich gut. Doch das Gehirn kategorisiert auch Verhaltensweisen und Menschen – und hier entstehen Schubladen, die uns zwar intuitiv richtig erscheinen, aber einer wissenschaftlichen Überprüfung oftmals nicht standhalten. Wie wir gesehen haben, dürfte das auch auf Lerntypen zutreffen.
Von Lerntypen zur Lernstrategie
Die meisten Schüler, Studenten und berufstätigen Lerner bleiben weit hinter ihren Möglichkeiten zurück. Das liegt aber nicht daran, dass ihr Lerntyp nicht zum Lernmaterial passt, sondern an den ineffektiven Methoden, mit denen sie lernen.
Das ist nicht meine persönliche Meinung, sondern die Quintessenz eines einflussreichen Übersichtsartikels aus dem Jahr 2013. Ein Team von US-amerikanischen Psychologen um John Dunlosky hatte mehr als 700 Studien über beliebte Lerntechniken ausgewertet. Das ernüchternde Ergebnis: Nur zwei der zehn untersuchten Lerntechniken konnten in die höchste Kategorie »Lerntechniken mit hohem Nutzen« eingestuft werden. Welche beiden Lerntechniken das sind, steht in meinem Artikel über Lerntechniken.
Effektivere Lerntechniken sind ein wahrer Gamechanger. Aber sie stellen nur eine von drei Stellschrauben dar, über die wir unseren Lernerfolg signifikant steigern können. Die komplette Geschichte steht in meinem Buch Überflieger-Formel. Es enthält die wichtigsten aktuellen Forschungsergebnisse und wirksame Ratschläge zu allen drei Stellschrauben:
- Lerntechniken
- Lern-Bedingungen
- Praktische Umsetzung
Ich verstehe was Sie meinen, dass die Lerntypen eher einen schaden, weil man nur einseitig lernt, aber ich würde die Idee an sich von Lerntypen nicht abtun. Es hilft einen vielmehr zu erkennen, welche Lernweise einen am meisten liegt und man merkt, welche Lernweisen man mal öfter ausprobieren sollte, damit man alle seine Sinne benutzt.
Deshalb würde ich Ihnen raten, dem ganzen eine Chance zu geben und das Positive sich daraus mitzunehmen. Wenn Sie dieses neu gewonnene Wissen beim lernen mit einbinden, kann das doch nur von Vorteil sein oder?
Aber ich finde gut, dass Sie sich über sowas Gedanken machen, dass bedeutet nämlich, dass Sie Dinge auch einmal kritisch betrachten und nicht alles leichtgläubig hinnehmen.