30.11.2021 / Dr. Jan Höpker / Kategorie: Lernen

Das Gelernte soll möglichst lange im Gedächtnis bleiben. Unser Feind ist das Vergessen. Nach dem Philosophen Sun Tzu muss man einen Feind kennen, um ihn besiegen zu können. Also: Wie und warum vergessen wir? Und: Wie können wir die Vergessenskurve aufhalten?

Die Vergessenskurve nach Ebbinghaus

Der erste, der das Vergessen mit naturwissenschaftlichen Methoden untersucht hat, war der deutsche Psychologe Hermann Ebbinghaus (1850–1909). Er interessierte sich für den Lernaufwand und wie schnell Gelerntes wieder vergessen wird.

Ebbinghaus prägte sich Listen mit sinnlosen Silben ein, die keine Assoziation zu bereits Bekanntem hervorrufen sollten. Sie bestanden aus einem Vokal und zwei Konsonanten, z. B. »tuv«, »zim« und »caz«.

Die Auswertung erfolgte mit der Ersparnismethode: Die Anzahl der Wiederholungen, die zum erstmaligen Lernen der Silben notwendig waren, wurde mit der Anzahl der Wiederholungen verglichen, die erforderlich waren, um die bereits gelernten, aber wieder vergessenen Silben nach einer bestimmten Zeit erneut zu lernen.

Ebbinghaus führte zahlreiche Versuchsreihen durch. Unter anderem variierte er die Länge der Listen sowie den zeitlichen Abstand zur Abfrage seines Wissensstandes.

Diese Selbstversuchen, die ab 1879 an der Universität Berlin stattfanden, offenbarten die sogenannte Vergessenskurve. Zu Ehren ihres Entdeckers wird sie auch als Ebbinghaussche Vergessenskurve bezeichnet.

Die wichtigsten Erkenntnisse lauteten:

  1. Das Vergessen verläuft negativ-exponentiell.
  2. Wenn wir Gelerntes, das wir wieder vergessen haben, erneut lernen, brauchen wir bei jeder Wiederholung weniger Zeit (Ersparniseffekt).

So sieht die Vergessenskurve aus:

Graph Vergessenskurve nach Ebbinghaus

Wie steil die Vergessenskurve abfällt, d. h. mit welcher Geschwindigkeit wir vergessen, hängt von der Art des Gelernten ab:

  • Sinnloses Wissen gerät am schnellsten in Vergessenheit: Nach nur 20 Minuten hatte Ebbinghaus bereits 40 Prozent seiner Silben wieder vergessen.
  • Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten sind am beständigsten. Hier liegt die Vergessensrate bei rund fünf Prozent nach 30 Tagen.
  • Alles andere liegt irgendwo dazwischen. Text in Reimform (Gedichte) vergessen wir etwas langsamer als Prosa (Text, der sich nicht reimt).

Graph unterschiedliche Vergessenskurven für unterschiedliche Arten von Wissen

(Weitere Details können in Ebbinghaus‘ Buch Über das Gedächtnis. Untersuchungen zur experimentellen Psychologie nachgelesen werden, das 1885 erschien.)

Im Jahr 2015 wurden Ebbinghaus‘ Ergebnisse von niederländischen Forschern repliziert.

Dabei fiel etwas auf, das schon Ebbinghaus bemerkt hatte: An einer bestimmten Stelle weist die Vergessenskurve einen Knick nach oben auf.

Graph Knick in der Vergessenskurve

Ein Teil des Vergessenen schien den Probenden nach etwa 24 Stunden wieder eingefallen zu sein. Die Forscher führen den Effekt auf Konsolidierungsprozesse zurück, die im Schlaf stattfinden.

Vergessen wir am Ende alles?

Anders formuliert: Geht die Vergessenskurve gegen Null oder nähert sie sich einem anderen Wert an? Dieser Frage widmete sich ein Team von Wissenschaftlern, das von dem US-amerikanischen Psychologen Harry P. Bahrick geleitet wurde.

Man untersuchte die Spanischkenntnisse von 733 Personen, die im College einen Spanischkurs belegt, aber das Gelernte seitdem nicht mehr angewendet hatten.

In ihrer Veröffentlichung aus dem Jahr 1984 beschreiben die Gedächtnisforscher eine Vergessenskurve, die in den ersten 3–6 Jahren exponentiell abnimmt, um dann über einen Zeitraum von bis zu 30 Jahren horizontal zu verlaufen:

Graph Vergessenskurve Permastore

Das bedeutet, dass ein Teil der gelernten Inhalte in einem stabilen Zustand abgespeichert wird, den die Wissenschaftler als »Permastore« bezeichnen.

Warum vergessen wir?

Was passiert im Gehirn, wenn wir vergessen? Zum Mechanismus des Vergessensvorgangs gibt es drei grundverschiedene Theorien:

  1. Theorie des Spurenverfalls
  2. Interferenztheorie
  3. Theorie des aktiven Vergessens

Theorie des Spurenverfalls

Nach der Theorie des Spurenverfalls sind Gedächtnisspuren grundsätzlich instabil, weshalb sie im Laufe der Zeit automatisch zerfallen.

Die Theorie des Spurenverfalls muss falsch sein, denn es gibt Menschen, die nicht vergessen können. Wer an Hyperthymesie leidet, erinnert sich z. B. an das Wetter an jedem einzelnen Tag der letzten Jahrzehnte. Diese außergewöhnliche Leistungsfähigkeit des autobiografischen Gedächtnisses hat einen Preis: Mit anderen Aufgaben tun sich die Betroffenen vergleichsweise schwer.

Interferenztheorie

Nach der Interferenztheorie vergessen wir, weil alte Gedächtnisinhalte von neuen Inhalten überlagert werden. Da immer mehr neue Inhalte hinzukommen, wird der Zugriff auf die alten Inhalte mit der Zeit immer mehr erschwert.

Gedächtnisforscher haben verschiedene Arten von Interferenz beschrieben.

  • Retroaktive Interferenz: Später Erlerntes stört früher Gelerntes.
  • Proaktive Interferenz: Früher Gelerntes stört später zu Lernendes.

Interferenz existiert, aber es scheint sich nicht um die Hauptursache für das Vergessen zu handeln.

Theorie des aktiven Vergessens

Um an eine Umwelt, die sich ständig ändert, angepasst zu bleiben, müssen wir veraltetes Wissen und Können wieder loswerden. Das spricht für einen aktiven, regulierten Löschvorgang.

An Tiermodellen wie Fruchtfliegen und Fadenwürmern wurden tatsächlich bereits Proteine identifiziert, die die Stabilität von synaptischen Verknüpfungen zwischen den Nervenzellen (Neuronen) regulieren.

Interessanterweise werden nicht nur die Erinnerungen gelöscht – auch die assoziierten Hinweisreize, die das Gedächtnis dazu veranlassen, einen bestimmten Gedächtnisinhalt abzurufen, werden geschwächt. Das passt zu der subjektiven Erfahrung, die wir alle hin und wieder machen: Unter bestimmten Bedingungen kommt vergessen Geglaubtes wieder zum Vorschein.

Die Vergessenskurve beeinflussen

Warum vergessen wir manches schnell und anderes langsam?

Gedächtnisinhalte sind unter anderem dann beständig, wenn sie in der Vergangenheit immer wieder aus dem Langzeitgedächtnis heraus abgerufen wurden. Durch den Prozess des Abgerufenwerdens werden die Gedächtnisinhalte gefestigt.

Wenn wir eine Erinnerung aus unserem Langzeitgedächtnis heraus abrufen, dann entsteht eine neue Erinnerung, die die alte Erinnerung ersetzt (Rekonsolidierung).

Indem wir den Kontext des Abrufs variieren, sorgen wir dafür, dass die Erinnerung mit der Zeit komplexer wird – sie wird mit immer mehr Hinweisreizen assoziiert, wodurch sie in Zukunft leichter aktiviert werden kann.

Es ist wichtig, zu verstehen, dass sowohl die Aktivierung aus dem Kurzzeitgedächtnis als auch die Exposition von außen, d. h. über die Sinnesorgane, kaum zur Festigung des entsprechenden Gedächtnisinhaltes beitragen. Den Lernstoff immer wieder nur passiv zu lesen, bringt so gut wie gar nichts.

Wie können wir sicherstellen, dass ein Inhalt nicht aus dem Kurzzeitgedächtnis, sondern aus dem Langzeitgedächtnis heraus aktiviert wird? Das Kurzzeitgedächtnis hat immer Vorrang. Wir müssen also warten, bis der entsprechende Inhalt aus dem Kurzzeitgedächtnis verschwunden ist. Erst dann wird er sicher aus dem Langzeitgedächtnis heraus abgerufen.

Es hat sich gezeigt, dass die Abrufe aus dem Langzeitgedächtnis umso effektiver sind, je mehr wir uns beim Abrufen anstrengen müssen. Sogar die erfolglosen Abrufversuche haben einen positiven Effekt: Das zukünftige Lernen der entsprechenden Inhalte wird erleichtert, weil das Gehirn dazu angeregt wird, die später präsentierten Informationen gründlicher zu verarbeiten.

Das bedeutet, dass wir die Abstände zwischen den Wiederholungen sukzessive vergrößern sollten – die Abstände sollten so groß sein, dass uns das Erinnern schwerfällt. Auf diese Weise wird die Vergessenskurve zunehmend flacher:

Graph verteilte Wiederholungen an der Vergessenskurve erklärt

Diese Lerntechnik ist unter der Bezeichnung verteilte Wiederholung (spaced repetition) bekannt. Weitere wissenschaftlich fundierte Lerntechniken habe ich in meinem Übersichtsartikel über Lerntechniken zusammengetragen.

PS: Die Beherrschung effektiver Lerntechniken stellt eine von drei Stellschrauben dar, über die du deinen Lernerfolg maßgeblich beeinflussen kannst. Die komplette Geschichte steht in meinem Buch Überflieger-Formel*. Es enthält die wichtigsten aktuellen Forschungsergebnisse zu allen drei Stellschrauben (Lerntechniken, Bedingungen und Umsetzung) und erklärt dir, wie du sie für deinen Erfolg im Studium nutzen kannst.

Hi, hier schreibt Dr. Jan Höpker. Ich bin Wissenschaftler (Chemiker), Autor und Gründer der Websites HabitGym und Der perfekte Ratgeber. Mit meinem Buch Erfolg durch Fokus & Konzentration habe ich bis heute mehr als 20.000 Leser erreicht und ihnen dabei geholfen, fokussierter zu leben, zu lernen und zu arbeiten. Hier erfährst du mehr über mich.

Ähnliche Beiträge

{"email":"Email address invalid","url":"Website address invalid","required":"Required field missing"}

(*) Affiliate-Link.

>