Willensstarke Menschen lassen sich von Hindernissen wie Unlustgefühlen und Ablenkungen nicht von ihren Zielen abbringen. Dadurch haben sie mehr Erfolg, bessere persönliche Beziehungen, weniger Stress und nicht zuletzt eine höhere Lebenszufriedenheit.
Doch viele Menschen reden sich ein, dass sie zu wenig Willenskraft haben. In Wahrheit haben sie ein ganz anderes Problem: Sie kriegen die PS nicht auf die Straße – es mangelt an Umsetzungskompetenz.
Was ist der Wille?
Warum tun wir Menschen das, was wir tun? Was ist die primäre Ursache unserer Handlungen? Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts gingen die Experten davon aus, dass wir mehr oder weniger automatisch das tun, wozu wir motiviert sind – dass also die Motive ausschlaggebend sind. Albert Bandura war einer der Ersten, die erkannten, dass das so nicht stimmte. Der kanadische Psychologe stellte fest, dass die tatsächliche Leistung der Menschen nicht durch ihre Leistungsmotivation determiniert ist. Und das gilt auch für andere Motive: Etwas tun zu wollen, führt nicht automatisch dazu, dass man das Vorhaben umsetzt.
Schließlich wurde der Behaviorismus vom Kognitivismus verdrängt. Im Rahmen dieses Paradigmenwechsels, der sich irgendwann zwischen 1940 und 1970 ereignete und der später als „kognitive Wende” bezeichnet werden sollte, wandelte sich auch die Vorstellung von der primären Ursache menschlichen Handelns. Die Motive, so die neue Vorstellung, sind dem Willen untergeordnet, denn wir können uns willentlich dazu entscheiden, Motive aus dem Nichts zu erschaffen und vorhandene Motive willentlich zu verstärken, abzuschwächen oder gänzlich zu unterdrücken. Der US-amerikanische Erziehungswissenschaftler Howard Gardner hat diese Fähigkeiten als emotionale Intelligenz bezeichnet.
In Form des sogenannten Bereitschaftspotentials konnte der Wille von den beiden Freiburger Wissenschaftlern Hans Helmut Kornberger und Lüder Deeke 1964 erstmals im menschlichen Gehirn nachgewiesen werden. Beim Bereitschaftspotential handelt es sich um ein elektrophysiologisch messbares Phänomen, das etwa eine halbe Sekunde vor jeder selbst-initiierten Willkürbewegung im Gehirn auftritt.
Wie frei ist unser Wille?
Das sogenannte Libet-Experiment hatte großes Aufsehen erregt, weil es den freien Willen infrage stellte. Etwas vereinfacht gesprochen hatte der US-amerikanische Physiologe Benjamin Libet Ende der 1970er Jahre herausgefunden, dass bestimmte Teile unseres Gehirns von unseren Entscheidungen wissen, bevor wir selbst wissen, dass (und wie) wir uns entscheiden werden. Der Vorsprung beträgt ungefähr 0,35 Sekunden. Ist der freie Wille eine Illusion?
Libet selbst war nicht der Ansicht, dass er den freien Willen widerlegt hatte, denn seine Experimente hatten auch gezeigt, dass die vom Gehirn vorbereiteten Entscheidungen noch bis zu einem gewissen Zeitpunkt willentlich abgebrochen werden konnte. Die Freiheit unseres Willens besteht also darin, dass wir uns gegen unsere Impulse entscheiden können – unser freier Wille ist ein Vetorecht! Der Wille ist nicht CEO, sondern Aufsichtsrat der Ich-AG.
Vom (freien) Willen zur Willenskraft
In seinem populärwissenschaftlichen Buch Willpower (Titel der deutschen Ausgabe: Die Macht der Disziplin*) verbreitet der US-amerikanische Willenskraftforscher Roy Baumeister eine ähnliche Sichtweise, wobei er jedoch nicht vom (freien) Willen, sondern von der Willenskraft spricht: Die Aufgabe der Willenskraft besteht nicht etwa darin, mit dem Kopf voran durch Wände zu gehen, sondern unangebrachte Impulse zu unterdrücken. Zu den wichtigsten Aufgaben der Willenskraft zählen:
- Gedankenkontrolle: unpassende Gedanken vorbeiziehen zu lassen, ohne ihnen Beachtung zu schenken oder sie weiterzuverfolgen
- Impulskontrolle: unangebrachten Gelüsten zu widerstehen
- Affektregulation: Zum Beispiel höflich zu bleiben, obwohl man wütend ist und sich lieber streiten würde
- Leistungskontrolle: Zum Beispiel eine einmal begonnene Aufgabe zu Ende zu bringen, obwohl man keine Lust mehr hat
In Summe, so Baumeister, ist unsere Willenskraft jeden Tag rund vier Stunden mit diesen und ähnlichen Aufgaben beschäftigt.
In der Persönlichkeitsentwicklungsszene wurde Baumeister insbesondere für das Konzept der Selbsterschöpfung bzw. Ego-Depletion und für das Ressourcenmodell der Selbstkontrolle bekannt.
Selbsterschöpfung und das Ressourcenmodell der Selbstkontrolle
Nach dem Ressourcenmodell der Selbstkontrolle hängt die Willenskraft von einer begrenzten biologischen Ressource ab, bei der es sich um den Blutzuckerspiegel handelt. Wenn der Blutzuckerspiegel unter ein bestimmtes Mindestmaß abfällt, können wir nicht mehr über unsere Willenskraft verfügen. Die Gewohnheiten und andere Automatismen übernehmen das Kommando. Der Fachbegriff für diesen Zustand lautet Selbsterschöpfung bzw. Ego-Depletion.
Auch Baumeisters Entdeckung, dass die Willenskraft trainiert werden kann, traf auf helle Begeisterung in der Szene. Aufgrund der Parallelen zu einem Muskel wurde der Begriff „Willenskraft-Muskel” geprägt.
Wie kann man die Willenskraft trainieren?
Allgemein gesprochen können wir unseren Willenskraft-Muskel trainieren, indem wir bewusst entgegen unseren Gewohnheiten handeln. Zu den Trainingsmethoden, deren Wirksamkeit Baumeister experimentell nachweisen konnte, zählen:
- Kontrolle der eigenen Körperhaltung: Bei Studenten, die zwei Wochen lang bewusst auf eine aufrechte Körperhaltung geachtet hatten, wurde im Vergleich zu einer Kontrollgruppe, die nicht auf die Körperhaltung geachtet hatte, eine stärkere Willenskraft gemessen (Quelle).
- Bewusst die schwache Hand benutzen: Bei Probanden, die Routinetätigkeiten bewusst mit ihrer schwachen Hand durchgeführt hatten (Rechtshänder benutzten die linke Hand und Linkshänder benutzten die rechte Hand), wurde eine verbesserte Fähigkeit zur Selbstregulation sowie eine verringerte Anfälligkeit für Selbsterschöpfung festgestellt (Quelle).
Heute sind die o. g. Übungen ein fester Bestandteil von Büchern und Artikel zu den Themen Disziplin und Willenskraft. Da könnte man leicht auf die Idee kommen, dass es sich um die wirksamsten Trainingsmethoden handelt. Doch die Kriterien, nach denen die im Rahmen der Studien verwendeten Übungen ausgewählt wurden, dürften andere gewesen sein: Nicht die maximal mögliche Effektstärke, sondern eine idiotensichere Durchführbarkeit und Reproduzierbarkeit der Übungen dürfte im Vordergrund gestanden haben.
Und das ist nicht das einzige Argument, das gegen das Praktizieren der o. g. Übungen zur Stärkung der Willenskraft spricht. Neuere Forschungsergebnisse deuten nämlich darauf hin, dass das Phänomen der Selbsterschöpfung womöglich nur bei jenen Menschen auftritt, die an eine begrenzte Willenskraft glauben. Wer nicht daran glaubt, scheint über einen unbegrenzten Vorrat an Willenskraft verfügen zu können. Die ganze Geschichte ist unglaublich spannend und wird in meinem Artikel Reverse Ego-Depletion: Das Geheimnis der unerschöpflichen Willenskraft ausführlich erzählt.
So viel zur Theorie. Was ist mit der Praxis?
Umsetzungskompetenz schlägt Willenskraft
Wir müssen bedenken, dass die Universitäten zumeist Grundlagenforschung betreiben, d. h. die dort beschäftigten Wissenschaftler finden heraus, wie die Natur funktioniert, aber nach einer praktischen Anwendung der gewonnen Erkenntnisse wird in der Regel nicht gesucht. Dafür sind die Wirtschaftsunternehmen zuständig. Sie greifen die Erkenntnisse der Universitäten auf und entwickeln daraus innovative Produkte und effizientere Unternehmensprozesse. Für sie ist auch das Thema Willenskraft von großem Interesse, denn willensstärkere Mitarbeiter bedeuten letztlich bares Geld.
Jedoch sind die Unternehmen nicht an den geistigen Abläufen, die sich im Inneren der Köpfe ihrer Mitarbeiter abspielen, interessiert, sondern an messbaren Resultaten. Mit anderen Worten: Für sie zählt nicht die Willenskraft, sondern die Umsetzungskompetenz.
Was bedeutet Umsetzungskompetenz?
Bei Wikipedia heißt es:
„Umsetzungskompetenz […] bezeichnet die durch Willenskraft und Selbstkontrolle gesteuerte Fähigkeit von Menschen […], bestimmte Pläne in tatsächliche Ergebnisse umzusetzen.”
Zur Umsetzungskompetenz kommt man, wenn man das, was der Göttinger Hochschullehrer Narziß von Ach um 1910 als den Wirkungsgrad des Wollens bezeichnet hat, mit der Willenskraft multipliziert:
Umsetzungskompetenz = Willenskraft • Wirkungsgrad des Wollens
Den meisten umsetzungsschwachen Menschen dürfte es nicht an Willenskraft, sondern an Umsetzungskompetenz mangeln. Ihr Problem ist ein (zu) niedriger Wirkungsgrad des Wollens. Sie sind wie traditionelle Glühbirnen: Zwar setzen sie große Mengen Energie um, aber der größte Teil davon geht ungenutzt durch Reibungsverluste als Wärme verloren. LEDs geben mehr Licht, obwohl sie weniger Energie verbrauchen – weil ihr Wirkungsgrad höher ist. Die Technik macht den Unterschied! Und was für Leuchtmittel gilt, gilt auch für umsetzungsschwache Menschen: Sie brauchen nicht mehr Willenskraft, sondern eine bessere Technik.
Wie die Umsetzungskompetenz gestärkt werden kann
Auf seiner Webseite Willenskraft.net erklärt Prof. Dr. Pelz, dass die Umsetzungskompetenz in Fähigkeiten bzw. Kompetenzen und Persönlichkeitseigenschaften heruntergebrochen werden kann. Diese Unterscheidung ist wichtig, denn nur Fähigkeiten bzw. Kompetenzen können erlernt und ausgebaut werden. Persönlichkeitseigenschaften sind dagegen auf lange Sicht äußerst stabil und damit praktisch unveränderlich.
Die vier Persönlichkeitseigenschaften, die am meisten zu einer starken Umsetzungskompetenz beitragen, sind:
- Ehrgeiz
- Integrität
- Energie
- Optimismus
Je ausgeprägter diese vier Persönlichkeitseigenschaften bei einem Menschen sind, umso mehr ist Umsetzungskompetenz-technisch bei ihm möglich.
Und die fünf erlernbaren Fähigkeiten, die am meisten zu einer starken Umsetzungskompetenz beitragenden, sind:
- Aufmerksamkeitssteuerung und Fokussierung: Sich auf wenige wesentliche Ziele fokussieren können; Prioritäten setzen können; Ablenkungen ignorieren können.
- Emotions- und Stimmungsmanagement: Die eigenen und fremden Gefühle und Stimmungen verstehen und in einer Weise regulieren können, sodass die Zielerreichung begünstigt wird.
- Selbstvertrauen und Durchsetzungsstärke: Aufgrund der eigenen positiven Erfahrung davon überzeugt sein, dass man das Ziel erreichen kann.
- Vorausschauende Planung und Problemlösung: Ressourcen wie Zeit und Energie bevorzugt im zweiten Quadranten der Dringend-vs-wichtig-Matrix (Eisenhower-Matrix) einzusetzen.
- Zielbezogene Selbstdisziplin: In der Tätigkeit bzw. Zielerreichung einen tieferen Sinn sehen; sich nicht von Druck, sondern von Sog antreiben lassen.
Es handelt sich um echte Erfolgsfaktoren, denn im Rahmen einer Studie hat Prof. Dr. Pelz die o. g. Kompetenzen in starker Ausprägung bei den umsetzungsstärksten zehn Prozent, aber nicht bei den umsetzungsschwächsten zehn Prozent einer fünfstelligen Anzahl an Studienteilnehmern gefunden.
Fazit
Wer glaubt, mehr Willenskraft zu benötigen, sollte sich um die fünf oben genannten Kompetenzen kümmern. Ein guter Anfang ist, sich mit den eigenen Werten auseinanderzusetzen (hier erkläre ich, wie das geht) und sich ein motivierendes langfristiges Ziel zu setzen (wie das geht, erkläre ich hier).
Vielen Dank für diesen interessanten Artikel zur Willenskraft und die Anregungen zur Umsetzungskompetenz.
Hallo Jan,
eine super schöne Seite hast du hier aufgebaut.
Gefällt mir richtig gut.
Danke für deine Arbeit und weiter so!
LG,
Flo von Lebensplanet
Guten Morgen Jan
Sehr gut geschrieben danke Dir für die Erinnerung an die Umsetzungskompetenz. Wille nutzt ohne Taten wenig das stimmt wohl.
Liebe Grüße
Karin
Lieber Jan,
toller Artikel über das Thema Willenskraft! Willenskraft ist auch beim Sport ein super wichtiger Aspekt mit dem vieles steht oder fällt. Ich persönlich habe erst durch den Sport wirklich verstanden, was Willenskraft eigentlich bedeutet und wie wir sie beeinflussen können.
Liebe grüße
Jahn